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Kommentar zum Roman "Der geköpfte Hahn" von Eginald Schlattner

 

wurde 1933 in Arad im Banat am westlichen Rand Rumäniens geboren. In einer multikulturellen Umgebung (Rumänen, Ungarn, Juden, Deutsche, Armenier und Zigeuner) wächst er mit seinen drei Geschwistern in Fogarasch am Fuße der Karpaten auf. 1945 wird Schlattners Vater zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert. 1948 wird seine gutsituierte Familie aus dem eigenen Haus vertrieben und der Besitz enteignet. Trotz der bescheidenen Verhältnisse besucht Schlattner das Gymnasium in Hermannstadt. Die Muttersprache wird der deutschsprachigen Minderheit vom rumänischen Staat nicht verboten. Ab 1952 studiert Schlattner zuerst ein Jahr evangelische Theologie in Klausenburg, dann Mathematik und Hydrologie. 1957 wird er verhaftet und 1959 von der Securitate wegen „Nichtanzeige von Hochverrat“ zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung arbeitet er als Tagelöhner in einer Ziegelfabrik, als Bautechniker, als technischer Zeichner und nach seinem Studienabschluss, 1969, als Hydrologe. 1973 nimmt Schlattner sein Theologiestudium in Hermannstadt wieder auf. Seit 1978 ist er Pfarrer in Rosia (Rothberg) bei Hermannstadt in Siebenbürgen. Erst 1990 hat Schlattner nach vierzigjährigem Schweigen zu schreiben begonnen. „Der geköpfte Hahn“ ist sein erstes Buch.

 

            „Exitus, was heißt das eigentlich?“ So lautet der erste Satz des Romans. Die Fülle an Ereignissen, Schilderungen und Menschentypen liefert eine umfassende Antwort auf diese Frage, so daß der Schluß als erwartetes und unvermeidliches Fazit wirkt: „Exitus letalis“.

 

            Der Hahn, mit seinem feuerroten Kamm ein Symbol von Sonne und Licht und durch den morgendlichen Schrei Verkünder eines neuen Anfangs, ist geköpft. Das Bild des geopferten Tieres, das - von seinem Haupt getrennt - noch in gierigen, vollen Zügen die letzten Lebenstropfen auskostet, durchzieht leitmotivisch den Erzählfluß und verkündet immer wieder die unmißverständliche Botschaft: Der Untergang naht, er kommt und ist unausweichlich. Doch von welchem Untergang oder Ende ist hier eigentlich die Rede?

 

            Am 23. August 1944 sitzt ein sechzehnjähriger Junge auf der Terrasse seines Elternhauses im siebenbürgischen Fogarasch und erwartet seine Gäste. Dieser Tag, an dem das Abschiedsfest einer Klasse stattfinden soll, bedeutet auch das Ende einer Lebensetappe: der Kindheit. Der 23. August 1944 verkündet aber gleichzeitig auch ein zweites Ende, das - anders als das erste - von keinem Neuanfang begleitet wird. Exitus letalis eben ... An diesem Tag hat das bis dahin mit Deutschland verbündete Rumänien die Fronten gewechselt und sich den Alliierten angeschlossen. Dieser Schritt leitete den Untergang der deutschen Bevölkerungsgruppen in Rumänien ein und stellte das Ende eines Prozesses der Einengung und des Autonomieverlustes dar, der bereits in der Zeit Josephs II. angefangen hatte und sich über die nachfolgenden zweihundert Jahre langsam und schrittweise vollzog.

 

            Sehr häufig findet man am Anfang eines Kapitels den erzählenden Jungen auf der Terrasse sitzen. Von hier aus blickt er in die Ferne des Gartens, aus dem seine Gäste kommen und die Freitreppe hinaufsteigen werden. Die Terrasse wirkt szenisch als Mittelpunkt der Ereignisse, als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, denn der Erzähler greift sich Menschen und Erlebnisse aus dem Gedächtnis heraus, reiht sie aneinander und läßt sie wie auf einer Bühne vor den Augen des Zuschauers auftreten. Auf diese Weise entsteht - aus der Zusammensetzung bunter, strahlender und auch dunkler Mosaiksteine - das letzte Bild einer vom Untergang bedrohten Welt: Hier wird der letzte tragikomische Akt in der Geschichte einer Minderheit gespielt, deren Anfänge 800 Jahre zurückreichen.

 

            Der Lebensweg des Jungen, der sich langsam aus einem Kind in einen Erwachsenen verwandelt, ist eng verflochten mit der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft der Zwischenkriegszeit. Der Roman gestaltet sich als gelungene Verknüpfung dieser beiden Ebenen, die einander ergänzen und das Gleichgewicht halten, um sich zu einem harmonischen Erzählfluß zu verbinden: Um den Jungen herum entsteht ein filigranes Geflecht aus Menschen, Ereignissen und Beziehungen.

 

            Man fühlt sich oft an Huckleberry Finn und an seine Reise entlang des Mississippi erinnert, die auch eine Lebensreise war. Ähnlich gestaltet sich das Erwachsenwerden des jungen Erzählers in Siebenbürgen: Er erlebt Gut und Böse und lernt diese Kategorien voneinander zu unterscheiden, er entdeckt die Freuden und Enttäuschungen von Freundschaft und Liebe und fragt nach dem Sinn von Leben und Tod. Der Umgang mit jüdischen Kollegen ist eine Herausforderung, der er nicht immer gewachsen ist, aber an der er letzten Endes wächst. Die Perspektive der Betrachtung bleibt ständig die des Kindes. Trotzdem drängt sich der Erzähler nicht in den Vordergrund. Deshalb gelingt es, in dem Roman einen lebendigen Eindruck von jener untergegangenen Vielvölkerwelt zu vermitteln, die sich aus dem selbstverständlichen Mit- und Nebeneinander von Rumänen, Deutschen, Ungarn und Zigeunern zusammensetzte. Jeder konnte seine Identität wahren, und die gegenseitige Toleranz erlaubte das Zusammenleben verschiedener Kulturen, Stände und Generationen trotz bestehender Unterschiede und Gegensätze. Diesem vielfältigen Reichtum sollten leider der Krieg und seine unmittelbaren Folgen ein Ende setzen.

 

            Am Schluß des Romans findet tatsächlich die erwartete und vorbereitete Feier statt. Die Vergangenheit löst sich in Gegenwart auf. Und nicht nur das: Antisemitisch geprägte Antipathien und Vorurteile, die sich wie ein unheilvoller Schatten durch die Handlung gezogen hatten, lösen sich mit einem Mal auch auf. An ihre Stelle tritt eine Atmosphäre der Versöhnung und des Verständnisses, „als geometrischer Ort menschlicher Gemeinsamkeiten“. Dem immanenten, vom Krieg herbeigeführten Untergang wird damit die Möglichkeit und Alternative eines harmonischen Zusammenlebens entgegengestellt.

 

            Was am Ende des Buches wie ein Zauber wirkt ist nur Ausdruck einer mythischen Dimension, die der gesamten Handlung anhaftet. Man fühlt sich hier und da an Gösta Berling erinnert. Wundertätige Menschen treten auf, und es ereignen sich phantastische, irreale Begebenheiten. Es gibt sogar einen Propheten, der - ähnlich wie im Mittelalter der Hofnarr - ungestraft die Wahrheit aussprechen darf.

 

            Märchenhaft, reich und ausdrucksvoll ist auch die Sprache selbst, die sich wie ein leichter Hauch vergangener Zeiten von den Seiten des Buches loslöst und den Leser mit ihrem Zauber einfängt.



Eginald Schlattner (1933 - )


Der geköpfte Hahn

 

Roman. München: Zsolnay Verlag, München 1998, 514 S.

 

 

Quellen im World Wide Web:

 

http://www.luise-berlin.de/Lesezei/Blz99_01/text26.htm

 

http://www.poetenfest-erlangen.de/2001/personenseiten/schlattner.htm

 

 

 

Zitate aus dem Roman Der geköpfte Hahn

 

>>Das ist unzumutbar für die deutsche Seele: mit Dr. Schul und Schmul im selben Auto, nicht um den Tod!<<

Ja, ja, nein, nein! Was darüber ist, ist von Übe1. Entweder, oder! So dachte man, so handelte man, so marschierten wir in Kronstadt im Sommer 1943. Ich sog alles vol1 Begeisterung in mich auf. Ich notierte mir das mit den Juden. Als erstes würde ich meinen rückständigen Vater in Fogarasch aufklären und auf Vordermann bringen.

 

Meine Vorschläge zur totalen Germanisierung unserer Firma ließen mich aber an ihm erschreckend neue, nie geahnte Züge und rätselhafte Reaktionen wahrnehmen.

Außer der Änderung der Firmenaufschrift von >>Fraþii<< zu >>Gebrüder<< und der Abwehr der jüdischen Rasse durch Verbotsschilder in den Auslagen verlangte ich, daß alle rumänischen Angestellten sofort durch >Unsrige<< ersetzt werden sollten. Diese wichtige Angelegenheit brachte ich nach meiner Rückkehr vor, am Sonntag während des Mittagessens im Salon.

Unsere Helenetante nieste, laut und ungeniert trompetete sie die Bazillen über den Tisch der pikierten Großmutter ins Gesicht. Sofort brachte ich mein Sprüchlein an den Mann: >>Zu deiner Gesundheit und zur Gesundheit des Führers!<<, worüber die Mutter so herzlich lachte, daß niemand etwas zu beanstanden hatte.

            Der Vater hörte mich wortlos an. Da er nicht antwortete, wiederholte ich das Ganze, begann zu argumentieren, führte ins Treffen, was ich frisch einstudiert hatte. Ich wurde heftiger, als er sich weiter in Schweigen hüllte. Die Tanten hatten zustimmend, später ermunternd genickt. Die Großeltern sagten nichts.

            Als ich zum dritten Mal begann, obschon alles eindeutig war und jedem Kind einleuchten mußte — fast schämte ich mich, daß der Vater so begriffsstutzig war —, hielt er im Essen inne. Ich dachte: Jetzt nimmt er das Telephon und trifft seine Anordnungen. Er legte Messer und Gabel kreuzweise über den Teller — um Tischregeln Wissende gaben sich Rechenschaft, daß er die Mahlzeit bloß unterbrach und später weiterzuessen wünschte —, erhob sich umständlich und kam ruhigen Schrittes zu meinem Platz am unteren Tischende. Vergessen hatte er die Serviette auf seinem Schoß, die als weißer Fleck an seiner Hose klebte. Das sah fast unanständig aus. Als er bei mir angekommen war, fiel sie zu Boden.

            Spring, bück dich, es ist etwas zu Boden gefallen! So hallte es in meinen Ohren seit der Kindheit. Ohne mich vorzusehen, sprang ich, wollte mich bücken, und sprang geradewegs in seine Ohrfeige hinein. Die tat weher als geplant, weil die Geschwindigkeiten sich summierten. Als müsse er sich widerwillig einer Pflicht entledigen, haute er mir noch eine herunter. Dann nahm er die Serviette aus meiner Hand, sagte >>Danke!<< und wischte sich über den Mund.

            Bei diesen zwei Ohrfeigen blieb es fürs Leben. Wir haben nie ein Wort darüber verloren. Das Essen ging weiter.

 

Immer wieder, am Sonntag und auch unter der Woche, war die Innenstadt von Kronstadt für den Verkehr gesperrt. Frontsiege und Gedenktage mußten begangen, Mahnwachen vor flammenden Bronzeschalen bezogen, Gedächtnisfeiern abgehalten werden. Alles und jedes gab Anlaß zu Aufmärschen, Paraden, Aufzügen mit Jungzug, Fliegerzug, Fackelzug, Spielmannszug. Es dröhnte und brauste und trommelte und tirilierte. Die Straßen wimmelten bis in die Nacht hinein von Jungen und Mädchen, von Burschen und Männern und Frauen in Uniform.

            Dann die Fahnen: Fahnenweihen, Fahnenhissen im Karree, Fahnen noch und noch, die Fahne hoch. Immer flatterte etwas über unseren Köpfen: Banner, Flaggen, Standarten, Wimpel. Der Himmel war blau wie in Berlin, doch bar jeder Gefahr. Der Krieg bei uns war erst zwei Jahre alt. Die Front rollte zwar zurück, aber trotzdem wurde gesiegt. Es lag nichts in der Luft, die Amerikaner bombardierten Kronstadt noch nicht. Leuchtend und seidig schimmerte der Himmel über der Stadt und anders als über Berlin. Denn dies war Siebenbürgen, das >>Land des Segens<< im Südosten des Abendlandes.

            Überall nur die Unsrigen, Körper an Körper und deutsch. Deutschland, wir rufen dich. Deutschland, wir sterben für dich. Deutsche Volksgruppe, Deutsche Mannschaft, Deutsche Frauenschaft, Deutsche Jugend, Bund Deutscher Mädchen, Deutsches Jungvolk. Jugendgruppe der Mütter. Mütterwerk. Winterhilfswerk. Hilfe durch Eintopf! Durch Topfschlagen Kraft. Kraft durch Freude. Und die Freude, körperlich greifbar: >>Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt<<!

            Manchmal verirrte sich em rumänischer General zu diesen Aufmarschen in der Inneren Stadt, im Hof der Schwarzen Kirche, auf dem Sportfeld. Begleitet von schwarzuniformierten Chargen der Volksgruppe, nahm er unser Defilee ab, die Hand mit dem Glacéhandschuh am goldverbrämten Schild der Mütze, sphinxhaft lächelnd hinter dunklen Brillen.

            Der Paradeschritt beim Exerzieren auf der Warthe bei den Wehrtürmen gelang mir nicht, ich mußte ihn vor der Front der Jungen Führer alleine üben. Wohl hob ich wie befohlen die Hände bis in Koppelhöhe, aber beide Hände zu gleicher Zeit, so daß sich die Fingerspitzen im Zenit berührten. Was falsch war und drollig aussah und ärgerlich wirkte. Die Kameraden durften auf Kommando lachen und hörten auf Kommando wieder auf. Dafür war ich dem Schulungsführer dankbar. Richtig war es, die Hände abwechselnd bis zur Gürtelschnalle mit der Siegesrune zu heben.

            Vor dem General gelang das vorbildlich, und es schien, als habe er an mir seine besondere Freude. Ob es jedesmal derselbe General war oder ein anderer, das konnte ich nicht auseinanderhalten. Für Außenstehende und Nichtkenner sehen Generale, Chinesen, Pimpfe und Zigeuner gleich aus — und Männer mit Vollbart. Der rumänische General trug eine schwarze Brille. Möglicherweise, um sich gegen die Überfülle an weißen Kniestrümpfen, schwarzen Hosen, braunen Hemden abzuschirmen, gegen das Zuviel an

>>Heil<< und >>Deutschland, Deutschland über alles<< Ich dachte plötzlich geniert, denn ich sah uns mit seinen Augen vorbeimarschieren: Sind wir ihm nicht genauso fremd wie er uns? Vielleicht aber hatte er eine schwarze Brille aufgesetzt — durch die auch ich für Sekunden die Dinge betrachtete —, weil er schwarzsah. Am Hals glänzte das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten, vom Führer in Berlin persönlich verliehen. Ich atmete auf: Das gab ihm ein Recht, unter uns zu weilen.

            Ich war ganz drinnen, und darum war ich ganz außer mir. Nichts Herrlicheres, als gemeinsam aufzugehen in Höherem, zu verschmelzen mit den Seinen, gleich zu sein mit allen und sich vergessen zu können. Hören und gehorchen, sich fügen und folgen. Mein Ich zerfloß in der Gemeinschaft, die einen trug und schützte. Der einzelne war nichts, das Volk war alles. Alles war leicht, weil handgreiflich und eindeutig. Jeglicher Zweifel und Zwiespalt erlosch. Ich versank in einem Meer von Glückseligkeit und spürte: Der Mensch ist nicht zur Freiheit geboren. Freiheit strengt an, erfordert Nachdenken, stürzt in Zweifel und Zwiespalt, zwingt zu Entscheidungen. Freiheit macht einsam und unglücklich.

 

An einem dieser hochgeschwellten Tage mußten wir die Innenstadt räumen. Wir waren plötzlich Zuschauer. Ich hatte vergessen, daß ich außer meiner Kluft auch normale Kleider mitgenommen hatte.

            >>Die Junii Români kommen!<< flüsterte Onkel Gebhardt, der die Arbeit in seinem Nagelgeschäft schwänzte, als ich mich am Vormittag auf dem Rathausplatz einfand. Überall hörte ich nur rumänisch sprechen. Ich kam mir wie ausgestoßen vor, fühlte mich schutzlos ausgeliefert an das Fremde.

            Den Roßmarkt herab erklang auf dem Steinpflaster Pferdegetrappel. Ein gewaltiger Zug von jungen Reitern näherte sich dem Marktplatz von der Angergasse außerhalb der Stadtmauern her, wo das rumänische Lyzeum Andrei Saguna stand. Die Pferde waren prächtig aufgezäumt, die Sättel unterlegt mit verzierten Schabracken. Die Burschen batten weitärmelige, lange Hemden an, übersät mit Stickerei in Gold und Silber und Rot, mit Ornamenten von aufgenähten bunten Metallplättchen, wie ich das bei den schlichten rumänischen Trachten in Schwarz und Weiß nie gesehen hatte. Diese Männer erinnerten an orientalische Prinzen. Stiefel und Pelzmützen fehlten nicht, obschon es Hochsommer war.

            Gemessenen Schritts lenkten sie die Pferde um das ehemalige Sächsische Rathaus, ohne einen Laut von sich zu geben. Mich überkam die Gänsehaut, mußten wir doch bei allen Aufmärschen schreien und jubeln. Auf dem Marktplatz schwenkten die Reiter mit todernsten Gesichtern die Streitkolben nach allen vier Himmelsrichtungen und ritten darauf in die Waisenhausgasse und durch das Katharinentor hinaus aus unserer Stadt. Und ritten zurück in ihre Siedlung Skei, wo sie seit undenklichen Zeiten jenseits vom Oberen Anger beim Salomonfelsen lebten, weit weg von der Stadt.

            Auch die Leute, die Spalier standen, schwiegen. Eine einzige Frau riefgellend: >>Trãiascã Junii Români, speranþa noastrã!<< Aber niemand nahm den Ruf auf: Hoch leben die Rumänischen Jünglinge, unsere Zuversicht!

            Als sie verschwunden waren wie die himmlischen Reiter der Apokalypse — nur der Pferdekot erinnerte daran, daß es keine Phantome gewesen waren —, erläuterte mir Onkel Gebhardt, selbst er in Zivil, was es mit dem Reiterzug für eine Bewandtnis habe: Vor 1918, als Siebenbürgen noch zu Ungarn gehört hatte, waren die Junii Români aus dem Skei Jahr für Jahr nur bis an die Mauern geritten, aber nie durch die offenen Tore und Straßen in die Stadt hinein, der damals ein sächsischer Magistrat vorstand. An der westlichen Wehrmauer hatten sie die Streitkolben drohend und mahnend gegen die Stadt geschwungen und dann auf der Hinterhand der Pferde gewendet, daß diese sich fast überschlugen.

            An diesem verbummelten Tag machte ich beim Onkel Robert einen Anstandsbesuch; mit Eilpost hatten mich die Tanten dazu aufgerufen. So schicke es sich unter Blutsverwandten. Auf dem Messingschild entzifferte ich in verschnörkelter Schrift: Robert Goldschmidt, dahinter: Dipl. Ing./Maschinenbau, darunter: Privatier. Als Turbinenfabrikant hatte er nach dem Weltkrieg im Burzenland die ersten Stromerzeuger in die wassergetriebenen Mühlen eingebaut, was in der Lokalpresse gewürdigt worden war und im Kronstädter Faschingsblatt des Industriellenverbandes ebenfalls und später als Pioniertat Eingang fand in die Heimatbücher.

            Er war >>doppelt so gescheit<< wie der Großvater, ja wie die meisten Menschen, weil er jedes Buch zweimal durchlas, von A bis Z. Kaum hatte er geendet, blätterte er auf die erste Seite zurück und fing von vorne an. Das tat er mit jedem Buch, sogar mit so dicken Büchern wie Die ganze heilige Schrift, an die er nicht glaubte, und Der Untergang des Abendlandes, an den er glaubte. Er hatte Zeit, war er doch in Kronstadt das erste Opfer der Weltwirtschaftskrise gewesen. Seit damals privatisierte er und zuckte mit den Fingern.

            Er wollte wissen, ob mir etwas >>Außertourliches<< begegnet sei: >>Wo jetzt alles uniform auf Hochtouren läuft.<< Auf das Stichwort >>Junii Români<< sprach er: Das sei ein Ritual, ein Begängnis, welches zeichenhaft Ansprüche und Erwartungen beschreibe, die durch höhere Mächte eingelöst werden würden. >>Mit ihrem Zug Jahr um Jahr am Tag des heiligen Elias bis an die Mauern haben sie symbolträchtig ihr Anrecht auf diese Stadt dargestellt, ohne sie mit Gewalt erobern zu wollen, wohl wissend, daß sie nicht von ihnen erbaut worden ist. Mit dem Umzug über den Rathausplatz aber haben sie bekräftigt, daß sie hier die Herren sind, selbst wenn der Kern der Stadt noch von unseren Leuten bewohnt ist.<<

            Er dozierte weiter: >>Man kann auf diese stille Weise in der Geschichte zum Ziel gelangen. Man kann auch solcherart groß werden an Land und Leuten, indem man selbstgenügsam wartet, abwartet, zuwartet, mit Geduld die Zeit für sich arbeiten läßt und gerade soviel tut, daß man die Zukunft rituell als Schauspiel beschwört. Anders als bei den kriegerischen Preußen zum Beispiel geschieht Geschichte auch so — durch Erdulden und in Duldsamkeit. Dazu sind die Rumänen wie geschaffen, prädestiniert: Sie sind ein tolerantes Volk, willig im Leiden, getröstet von Märchen und Sagen und gewiß, daß ihr >gütiger Gott<, bunul Dumnezeu — du kannst ja Rumänisch? —, alles zu ihrem Besten wendet. Und er tut es. Geschichte geschieht selbst dann, wenn nichts geschieht, obschon das eine Contradictio in adjecto zu sein scheint. Geschieht, wie Figura zeigt, wenn man keinen Finger rührt, aber zur gegebenen Zeit mit vollen Händen zugreift. Die Rumänen — Român, übrigens ein Kunstwort, erfunden im vorigen Jahrhundert —, sie meinen, daß Transsilvania ihre Urheimat ist, und das seit der Erschaffung der Welt. Sie kennen keine Geschichte, >wie es wirklich war<, dafür erfinden sie Geschichten, die sich von alleine erfüllen. Seltsam.<<

            Der Onkel hatte mir in einem rosa Kurbecher aus Karlsbad auf einer zierlichen Untertasse Wasser serviert: >>Das Wasser ist das Beste, sagen die Griechen!<< Zu absehbaren Zeitpunkten zuckte er mit allen zehn Fingern, die er rhythmisch zusammenkrallte und wegstreckte; dabei schloß er die Augen. Rasch besah ich die Kehrseite des Tellerchens und erhaschte eine Krone und mit Schwung geschrieben: Rosenthal. Und hatte einen Augenblick lang Heimweh nach meiner Mutter. Und fühlte mich geschmeichelt: Rosenthal, er hält etwas von mir. Und getraute mich, etwas zu sagen:

>>Gewiß, Wasser ist das Beste. Schon Thales behauptet es:

ariston men hydor!<<

            >>Woher weißt du das?<<

            >>Vom Großvater.<<

            >>Ja, der Hermann, siebengescheit noch immer.<<

            >>Ja<<, sagte ich, >>aber er glaubt es nicht.<<

            >>Gewiß, er glaubt es nicht. Und recht hat er. Vielleicht hat das nämlich Pindar gesagt.<< Ich widersprach nicht, obschon ich wußte, weshalb der Großvater nichts vom Wasser hielt. Der Onkel säuberte die Gläser seines Augenspiegels und betrachtete mich mit geschärftem Blick, ehe er seine geschichtlichen Betrachtungen fortsetzte:

            >>Dagegen die Ungarn, nicht wegzudenken aus der Geschichte des Abendlandes, obschon von der Herkunft ein wildes asiatisches Volk. Apostolisches Königreich seit nahezu tausend Jahren. Und ist es heute noch, wenn auch ohne König.<<

            >>Ja<<, sagte ich, >>mit einem Admiral als Regent, doch kein Meer weit und breit.<<

            Der Onkel blickte mich aufmerksam durch dicke Brillengläser an: >>Woher weißt du das?<<

            >>Vom Großvater.<<

            >>Ah, der Hermann, siebengescheit in allem.<<

            >>Ja<<, sagte ich, >>er ist sehr gescheit.<<

            >>Und die gute Bertha, was macht die noch? Ich bin ihr einen Hut schuldig geblieben, oje, eine alte Schuld und ein alter Hut, von vor dem Krieg.<<

            Und dann erzählte er die Geschichte vom Hut meiner Großmutter aus dem Jahr 1910, als sie mit seinem Nash, einem offenen Tourenwagen, von Hermannstadt nach Kronstadt gereist waren und meiner Großmutter der Hut vom Kopf geflogen war. >>Du kennst das Lied: Der Hut flog mir vom Kopfe.<< Und als man nicht stehenbleiben durfte, sonst hätte man nicht weiterfahren können. >> >Nur zu, Herr Antal< <<, habe ich dem Chauffeur zugerufen, >> >still, Bertha, kein Lamento, ich kauf dir einen neuen Hut<. Doch hat das nichts gefruchtet, in Zeiden ist das Automobil stehengeblieben und war nicht von der Stelle zu bewegen. Zwei Ochsenwagen mußten uns die letzten zehn Kilometer bis nach Kronstadt ziehen. Die ganze Reise, hundertvierzig Kilometer, hat zwölf Stunden gedauert. Und wer den Schaden hat, muß für den Spott nicht sorgen, diese Geschichte wurde in der Faschingszeitung breitgetreten. Ja, welche Zeiten, ist lang her, das mit dem Hut der guten Bertha und dem Automobil von 1910.<< Er notierte in ein Heft, daß er meiner Großmutter einen Hut schulde.

            >>So ist das bei uns in Siebenbürgen: man berichtet nicht kurz und bündig, sondern erzählt sich Geschichten. Doch den Durchblick sollte man nicht verlieren!<<

            Damit war mein Besuch zu Ende, denn der Großonkel nahm ein dickes Buch zur Hand, schlug die erste Seite auf, begann zu lesen und hatte für nichts und niemand mehr Aug und Ohr. Ich machte mich unbemerkt davon und getraute mich nicht zu fragen, ob er es zum ersten oder zum zweiten Mal lese, das dicke Buch.

            Onkel Gebhardt, der noch immer am Marktplatz Wache hielt, drückte das mit Siebenbürgen und den Rumänen und den Ungarn volkstümlicher aus als der belesene Robertonkel. Er belehrte mich, wie er es aus dem Lehrgang für Volksaufklärung und Propaganda behalten hatte: >>Alles ist den Rumänen in den Schoß gefallen. War ihr Land vor dem Krieg ein Kipfelchen, ist es nun aufgegangen wie ein Krapfen. Dazu haben sie eine Geschicklichkeit, sich ins Fertige zu setzen, ohne daß man es recht bemerkt. Man wacht auf, und sie sind da und mittendrin. Schon bei unseren schönen Friedhöfen muß man aufpassen; bis du dich umdrehst, hat sich einer in dein Grab gelegt. Und nun sieh dir mal den Marktplatz an, alles sächsische Patrizierhäuser, aber überall stecken sie drin. Sie ernten, wo sie nicht gesät haben, sie schlüpfen in Nester, die sie nicht gebaut haben.<< Er zeigte mit der Hand über den Platz: >>Zwei rumänische Kirchen sind hier versteckt. Siehst du sie, erkennst du sie? Plötzlich waren sie da, wie vom Himmel gefallen.<< Ich sah sie nicht. Ich drehte mich herum, ließ den Blick über die pompösen Fassaden schweifen wie über em Vexierbild. Ich entdeckte keine.

            >>In die Hinterhöfe haben sie sie hineingeschmuggelt. Eine auf dem Roßmarkt dort drüben hinter der Ecke: Das himmlische Jerusalem, und die andere, schau dort schräg rechts, das unscheinbare Tor neben der Zeidnerschen Buchhandlung, unauffallig mit Heiligenbildern umrahmt, das ist der Eingang, und im Hinterhof die Kirche La sfânta adormire, Zur heiligen Einschläferung. Besser kann man es nicht ausdrücken.<<

            >>Was ausdrücken?<< fragte ich.

            >>Die Art, wie ihnen alles gelingt; es ist wie ein Wahlspruch. Die heilige Parole heißt: sich selber schlafend stellen und dabei die anderen einschläfern!<<

            >>Ja, ja<<, sagte ich zerstreut. >>Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe.<<

            >>Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe?<< Der Onkel sah mich an. >>Wieso bist du so beschlagen in der Bibel?<<

            >>Ach<<, sagte ich, >>das ist der Konfirmationsspruch eines Schulkameraden.<<

            >>Bist du konfirmiert?<<

            >>Nein<<, sagte ich.

            >>Wieso, das Alter hättest du.<<

            >>Man kann nicht zweier Herren Knecht sein.<<

            >>Bravo, das ist recht gesprochen für einen Hitlerjungen. Ja, ja, nein, nein! Was darüber ist, ist von Übel!<<

            Daß er aus der Bibel zitiert hatte, wußte er das? Ich fragte nicht, denn voll Eifer redete er weiter, überquellend von guten Ratschlägen, hingerissen von hehren Erinnerungen:>>Und wenn es ans Heiraten geht, dann nur im Wald unter der heiligen deutschen Eiche, dort schließ den Bund der Ehe. Wir haben es vorexerziert, deine Tante Lilí und ich, und es war ein Sieg. Alle Namen unserer Kinder beginnen mit Sieg.<<

            >>Siegheil<<, antwortete ich prompt, so wie man Prosit sagt, wenn einer niest, verwahrte mich aber gegen allzu ferne Zukunftspläne: >>Das mit dem Heiraten hat noch Zeit.<<

            >>Ja, die Rumänen! Sie sind unsere Waffenbrüder und so geziemt es sich, etwas Gutes zu sagen. Gute Infanteristen sind sie<<, meinte der Onkel noch, >>mit ihren Wickelgamaschen sind sie kommode bis an die Wolga gelaufen. Noch sind sie unsere Waffenbrüder im Kreuzzug gegen den Bolschewismus. Aber du wirst sehen: Bei der ersten Gelegenheit, wenn es etwas Besseres zu ergattern gibt, fallen sie uns in den Rücken. Und fallen immer auf die Füße. Sieben Leben haben sie.<<

>>Wie die Katze<<, sagte ich, um zu bestätigen, daß ich verstanden hatte. Mit Rumänen hatte ich nichts zu tun. Daß es sie gab, vergaß ich immer wieder, obwohl man in Fogarasch auf Schritt und Tritt über sie stolperte. Ihre Geschichte war mir so fremd wie die der Zulukaffern (doch halt: über die wußten wir durch Lettow-Vorbeck bestens Bescheid). Zu ihren Geschichten verbaute mir die Sprache den Zutritt. Außer dem Märchen vom Tränenprinzen kannte ich nichts. Mit Müh und Not lernte ich in der Schule Rumänisch als Fremdsprache, zwei Stunden in der Woche. Und sprechen tat ich es eher schlecht als recht.

            Dies alles hatte der Onkel im Flüsterton vorgetragen, unter den Arkaden des Hirscherhauses, während sich die Rumänen auf dem Marktplatz drängten, noch lange, nachdem ihre Junii mit erstarrten Gesichtern und stumm vorübergeritten waren.

            Wir blickten uns um. Dieselben Fassaden der sächsischen Patrizierhäuser um den Marktplatz, dieselben bewehrten  Hügel aus der Zeit, da im Mittelalter die Stadt rein deutsch gewesen war, alles wie eh und je, aber nicht wie gestern und nicht mehr unsere Stadt.

            Tags darauf hatten wir sie wieder erobert.

 

Ich lernte, was ein DJ-Jugendführer zu lernen hat: zu gehorchen und zu befehlen. Das Befehlen war schwerer als das Gehorchen.

            Ich merkte mir feinsinnige Kleinigkeiten: Der Feind war nötig, damit wir Freunde blieben. Entscheidend war es, den Feind auszumachen, aber nicht fertigzumachen! Es war weniger wichtig, wofür man kämpfte, als wie man kämpfte. Sich opfern war alles, glücklich sein nichts. Das deutsche Herz stand über dem welschen Verstand. Am deutschen Wesen mußte die Welt genesen.

            Aber auch praktische Faustregeln blieben haften. Zum Beispiel durfte ein Deutscher Junge, wenn es hieß: Der Größe nach angetreten!, nicht zwischen dem Führer und der sich bildenden Front hindurchschlüpfen, um an seinen Standort zu gelangen, sondern mußte hinten um den Führer herum einen Bogen schlagen. Rief ein Führer dich beim Namen und winkte dich herbei, konntest du nicht einfach sagen: Hier bin ich!, wie der Knabe Samuel in der Bibel. Vielmehr mußte man sich vor dem Führer aufpflanzen, so nahe oder so fern — das hing von beider Größe ab —, daß man ihm klaren Blicks in die Augen schauen konnte; man mußte laut und mit heller Stimme melden, was man darstellte, selbst wenn das ersichtlich war, und aufsagen, wie man hieß, alles nach einer genauen Formel: Pimpf Magnus Klein oder Deutscher Junge Ernst Heiter meldet sich zur Stelle! Erscholl ein Befehl, so genügte nicht: >>Ja, ja, schon gut, verstanden!<< Vielmehr mußte man >>Jawoll!<< rufen (Jawoll mit zwei l) und den Befehl wiederholen. Hatte man seine Meldung an den Führer gebracht, und er befahl: >>Weggetreten!<<, dann rannte man nicht frohgemut davon, sondern sagte: >>Jawoll! Zu Befehl! Weggetreten!<< Und machte linksum kehrt, blieb stehen wie in Erz gegossen, tat einen Paradeschritt, hielt wieder an, Hände an der Hosennaht, und stelzte schließlich davon.

            Beim Befehlen war wichtig, daß man immer recht behielt. Ging etwas schief, nie zögern, sofort handeln. Strafen war unvermeidlich, es gehörte zum Drill und Schliff. Bestraft wurde, wenn einer das deutsche Ehrprinzip verletzte. Der Täter mußte von der Gewichtigkeit der Verfehlung und der Rechtmäßigkeit der verhängten Strafe überzeugt sein. Die Strafe hatte der Ertüchtigung zu dienen. Der Bestrafte mußte gestärkt und erhoben hervorgehen, stärker der Gemeinschaft verpflichtet und dem höchsten Führer in Berlin ergeben.

            Zu empfehlen waren Liegestütze, in besonders ehrenrührigen Fällen mit einem gefüllten Rucksack. Der Schulungsführer mit seiner Schramme unter dem rechten Auge, den wir gern hatten, den wir manchmal liebten, obwohl das nicht gefragt war, denn es verriet Schwäche (besser: für den wir bereit waren, durchs Feuer zu gehen), warnte uns davor, beim Liegestütz dem Gezüchtigten mit dem Schuh auf den Kopf zu treten und ihn hinunterzudrücken. Das kränkte für lange. Vielleicht verlor man einen Freund für immer oder erwarb sich, ohne es zu merken, einen Feind. Was an sich wünschenswert war, aber nichts nutzte, wenn man es nicht wußte. Nie durfte man vergessen, daß der Bestrafte ein Kamerad war und in seinen Adern ebenso deutsches Blut floß wie in denen des Führers in Berlin. Das war klar, Mensch!

            Ich merkte mir die kürzeste Definition eines komplizierten Ablaufs: Was heißt tarnen? Tarnen heißt sehen und nicht gesehen werden. Ich bekam mit, daß wahre deutsche Jugend nicht dem englischen Fufball frönte, Ausgeburt eines Rassenkuddelmuddels, auch nicht ausschließlich Handball spielte, wiewohl das dem deutschen Wesen eher entsprach, sondern ihre Kräfte und Fähigkeiten im Raufball der Germanen erprobte, ein Spiel, bei dem alles erlaubt war, was nicht gegen die Ehre verstieß.

            Ich lernte zwischen Geländespielen und Kriegsspielen zu unterscheiden. Bei den Geländespielen sollte man kundig werden im Terrain, sich im Kartenlesen üben, nach Kompaß marschieren, sich an Moos oder Sternen orientieren, Feuer entfachen, das keinen Rauch machte, Erste Hilfe leisten und vieles andere, was dem Hordenmenschen ziemt.

            Beim Kampfspiel hingegen drängte alles auf den festlichen Höhepunkt zu, >>wie bei einem Orgasmus<< — das Wort verstand allein ich. Orgasmus, das war die Berührung mit dem Feind.

            Es konnte bis zum Abend dauern, ehe es zur Feindberührung kam, einen ganzen Tag lang, nicht frei von Wankelmütigkeit und Bangbüxigkeit. Dann aber fiel jegliche Angst ab, und der blinde Mut von Helden übermannte uns. Wir stürzten uns aufeinander und begannen uns zu prügeln mit einer Sinneslust, in der sich Wut und Entzücken küßten. Wir haßten den Feind, aber wir liebten seinen Leib, der uns zu solchem Hochgenuß verhalf.

            Auch ich erlebte diesen Rausch der Verwandlung. Mit liebestoller Inbrunst stürzte ich mich auf meinen Feind. Denn ihm, der sich mit Gier dem Karnpf stellte, verdankte ich, daß ich mich vergessen konnte, die Ängste weggeschwemmt wurden, mein Inneres in seiner Zwiespältigkeit ausgelöscht war. Es blieb ein blutrünstiges Ich, voll Verlangen nach schmerzhafter Berührung.

            Dieser mein Gegner stachelte mich auf. Er schlug mir die ersehnten Wunden. Gesteigert der Rausch: Die Haut barst und Blut spritzte. Blut, das ausgebrochene Leben — es rann aus mir wie beim geköpften Hahn, der vor Lust tanzte, wenn die Magd ihm den Kopf abschlug. Mein Blut in übermütiger Rote, zum Sprühen gebracht durch den Feind, der sich in meine Haut verbiß, in mein Fleisch krallte. Um ihn an mich zu fesseln, schlug ich zurück, riß Wunden in seinen Leib. Welch ausschweifendes Glück, mit dem geliebten Feind zu verschmelzen! Fragte ich noch nach Sieg und Heil? Lust war alles, der Tod war nichts. Ich begriff, warum geschrieben steht: Liebet eure Feinde. Und ich verstand das höhnische: Tod, wo ist dein Stachel?

            Bei einem dieser Kriegsspiele war ich nach mörderischem Kampf allein übriggeblieben. Das hieß, dem Gegner war es nicht gelungen, von meinem linken Handgelenk einen Wollfaden wegzureißen. Das Manöver hatte am Schuler — dem Schulberg des Honterusgymnasiums — seinen Ausgang genommen und nach einem anstrengenden Tag auf gefährlichen Schleichwegen beim Hangestein gegen Abend geendet, als die Späher erregt berichteten, der Feind sei in Sicht, habe sich am Felsabhang verschanzt und warte.

            >>Fangt ihn und macht ihm den Garaus, nur noch dieser ruppige Teufel ist am Leben!<<, so brüllten die Feinde. Ich sah mich um. Meine Kampfgefährten hielten zähneknirschend ihr zerkratztes linkes Handgelenk in die Höhe. Sie hatte man fertiggemacht. Sie waren tot. Ich war allein geblieben.

            Ich rannte los, gegen den Hangestein zu. Auf einer Felsnase ließ ich mich auf die Knie fallen, rollte mich ein, umfaßte schützend mein linkes Handgelenk mit dem blauen Wollfaden und biß um mich, als die Burschen sich über mich warfen. Fluchend wichen sie zurück, verhielten ratlos.

            Ich hob den Kopf. Unter der Felskante gähnte der Abgrund. Tief unten erblickte ich die Wipfel der Tannen. Mein Herz schlug wie eine Glocke in Flammen. Die Glut des Kampfes brauste in Feuerströmen durch meinen Leib, sprengte den Willen zur Form. Aus mir brach em leidenschaftliches Verlangen, mich in die silbernen Spitzen zu werfen, mich in die tödliche Dämmerung fallen zu lassen, im Schweigen der Wasser tief unten zu verlöschen. Ich schrie auf: >>Rührt mich nicht an. Sonst stürz ich mich hinunter!<< Totenstille im Rund der Zeugen, während ich den Blick hinunterfallen ließ.

            >>Laßt ihn leben<<, hörte ich die Stimme des Bannführers, >>er hat es verdient, er hat sich tapfer geschlagen!<< Eine Aufwallung von demütiger Dankbarkeit erfaßte mich für den unbekannten Führer ganz in Schwarz, den Herrn über Leben und Tod, der mich ins Leben zurückbefahl. >>Robb zurück, Junge, es geschieht dir nichts!<< Der Riesenmensch, der nach meinem Namen nicht fragte, packte mich am Kragen wie ein Karnickel, zog mich in die Höhe und stellte mich vor die Kameraden, für die mein Herz wieder normal zu schlagen begann. Ich stand Habtacht und wiederholte: >>Jawoll! Ich robbe zurück, mir geschieht nichts!<<

 

Der letzte Abend in Kronstadt gestaltete sich grandios. Im nächtlichen Stadion der Obervorstädter Schule, dem Sportplatz der DJ, entrollte sich ein gewaltiges Fest der Weihe und der opfervollen Darbringung.

            Fackelträger aller Formationen von den Pimpfen bis zu den Frauen marschierten in das Stadion ein und entfalteten mit ihren Leibern auf dem Kampffeld unter den steilen Tribünen kunstvolle Ornamente, Runen und Signale, schrieben mit feuriger Schrift auf den Rasen und in die Aschenbahnen heroische Parolen. Das wurde untermalt vom Trommelwirbel der Spielmannszüge, dumpf wie im Zirkus, wenn Gefahr droht.

            Ich saß auf der Zuschauertribüne, neben mir mein Bruder Kurtfelix. Die Malytante und der Fritzonkel waren mit der gelben Trambahn aus der Tannenau angereist. Gegen den Protest der Griso hatten sie meinen Bruder, der noch immer liegen sollte, mitgebracht. Die Malytante hatte entschieden: Man dürfe das Kind vom politischen Geschehnis nicht abschneiden, denn was jetzt sein empfindsames Wesen aufnehme, das forme seine deutsche Seele fürs Leben.

            Der Fritzonkel war gekämmt und gestutzt wie der Führer in Berlin und hatte einen Schnurrbart wie dieser und war fast auf den Tag so alt wie er. Und obwohl er Dworak hieß, ähnelte er ihm so, daß die Leute auf der Strafe entgeistert stehenblieben, ihn anschauten und >>Heil Hitler, Herr Hitler<< sagten.

            Die Malytante hatte tiefblaue Augen, trug ihr vorzeitig, aber in Ehren ergrautes Haar hochtoupiert und hatte es mit zwei tiefblonden Zopfen versehen, um anzuzeigen, daß sie früher noch germanischer ausgesehen hatte. Sie war die Ortsgruppenleiterin in der Tannenau, wo sehr reiche Sachsen ihre Villen in Gärten und Parks besaßen und einfache Rumänen ihre Bauernhäuser zu einer Gassenzeile zusammengerückt hatten. Unter den reichen Volksgenossen, klagte sie, sei es schwer die Beiträge einzusammeln.

            Kurtfelix hatte Pfeil und Bogen mitgebracht, verborgen unter dem Sommermantel. An die Pfeilspitzen band er Wunderkerzen und zündete sie an, ehe er das Geschoß in die Luft schickte. Alles Volk reckte die Hälse, als die Wunderwaffen ihre funkensprühenden Bahnen über das Stadion zogen. Ich half ihm dabei, indem ich Tante und Onkel von der Trefflichkeit der Unternehmung überzeugte. Doch das Vergnügen war von kurzer Dauer. Von hinten faßte ein schwarzuniformierter Arm nach den Instrumenten, mit denen Kurtfelix die Lichteffekte des Festes bereicherte, und entwand sie ihm mit sanfter Gewalt: Die Pfeile lenkten die Sinne der Volksgenossen in die falsche Richtung, sagte die Stimme aus dem Hintergrund, hin zu den rassisch minderwertigen Indianern oder, noch schlimmer, zum judaistisch infizierten Weihnachtsfest, das müsse der Knabe verstehen. Beim germanischen Sonnwendfest habe man an die lichtvolle Gestalt des Führers im Reich und an den Endsieg über die Mächte der Finsternis zu denken. >>Siegheil!<< Weg war er samt Pfeil und Bogen, der Mann ohne Schatten. Mein Bruder weinte nicht, obwohl es ihn nicht kaltließ. Das hieß laut Großvater Contenance. Fast kamen mir Tränen der Bewunderung.

            Wie genoß ich es, meinen Bruder in der Nähe zu haben, den ich nur emmal in der Tannenau besucht hatte, da mir Übungen und Einsatz keine Zeit ließen. Er ruhte auf seinem Bambusbett und 1ieß sich mit stillen Augen berichten, was ich so trieb. >>Wann kommst du nach Hause?<< fragte ich.

            >>Bald<<, sagte er. >>Tannenluft! Wir haben doch Tannenluft zu Hause noch und noch!<< Bei der Einfahrt stünden genug Tannen für seine kleine Lunge.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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